Beitrag von Prof. Dr. Kutzner FDP Siegen
Die gesetzliche Impfpflicht – zur Orientierungsdebatte im Deutschen Bundestag
Eine Sternstunde des Parlaments?
Ob es eine allgemeine Impfpflicht geben soll oder nicht, diese Frage ist in das Plenum des Deut-
schen Bundestags gelegt worden, dessen Mitglieder, frei vom Fraktionszwang, frei von der Bindung
an ihre Partei, sich kürzlich (26. Januar 2022) das erste Mal austauschten, wie sie es mit dieser be-
deutenden Grundrechtsfrage halten wollen. Eine Minderheit lehnt eine allgemeine Impfpflicht ab,
andere wollen sie auf die älteren Jahrgänge (ab 50 Jahre) beschränken, ein recht beträchtlicher Teil
votiert für die Impfpflicht ab 18 Jahren. Teilweise sind die Auffassungen auch in den einzelnen
Fraktionen sehr divergent, gerade die Liberalen sind in dieser Frage sehr uneins.
Eine Debatte, in der der Fraktionszwang ausgesetzt ist, wird gern als „Sternstunde des Parlamentes“
bezeichnet. Denn die Abgeordneten können dann frei ihre persönlichen Auffassungen vertreten und
ihrem eigenen Gewissen folgen. In solchen Debatten ohne Fraktionszwang wird sichtbar, dass das
Parlament das politische Zentrum der Willensbildung ist, das von sich aus initiativ wird und nach
einer Mehrheitsentscheidung die Regierung beauftragt. Vor allem in solchen seltenen Ausnahmefäl-
len kann mehr als sonst deutlich werden, dass die Gesetzgebung eigentlich der Exekutive, der Re-
gierung übergeordnet ist.
Sehr begrüßenswert, dass die Abgeordneten weitgehend (bis auf wenige Ausnahmen) der Öffent-
lichkeit demonstriert haben, dass auch in dieser grundsätzlichen Frage zwar leidenschaftlich, aber
die jeweiligen Gegenpositionen durchaus anerkennend und respektierend gestritten werden kann.
Wenn die Corona-Situation die Gesellschaft tatsächlich spaltet, wofür ja doch einiges spricht, dann
hat der Deutsche Bundestag überzeugend demonstriert, dass Dissense in sehr grundsätzlichen Fra-
gen nicht notwendig zu Spaltungen, zu wechselseitigen Verunglimpfungen und Beschimpfungen
führen müssen. Unter diesem Aspekt haben wir tatsächlich eine Sternstunde erlebt, wenn man sich
vor Augen führt, wie erbittert oftmals in vielen Medien, aber auch im Alltag der Streit um Corona-
Maßnahmen ausgefochten wird, sowohl von Seiten mancher Impfbefürworter (nicht nur der Impf-
pflichtbefürworter) wie auch bisweilen von Seiten derjenigen, die eine Impfung gegen Corona ab-
lehnen. Auch wenn sich durch künftige Bundestagsdebatten in dieser Art das öffentliche Diskussi-
onsklima wohl kaum verändern wird, so zeigten doch die Abgeordneten mehrheitlich, dass es auch
anders gehen kann. Wir hätten alle viel davon, wenn sich künftig die gerade in vielen sozialen Me-
dien von allen Seiten etablierten Empörungsrhetoriken und teilweise auch Verschwörungsfantasien
relativieren und mehr Sachlichkeit Platz machen würden.
Einige aus meiner Sicht wichtigen Aspekte sind jedoch zu kurz gekommen in dieser Bundestagsde-
batte. Das betrifft das Verständnis des Artikel 2 des Grundgesetzes, der unter anderem das „Recht
auf körperliche Unversehrtheit“ beinhaltet, auf das sich ja die Impfpflichtgegner berufen. Und das
betrifft die Frage der Pandemiebekämpfung generell. Beide Aspekte hängen miteinander zusam-
men.
Die Gegner der Impfpflicht verkennen, dass Grundrechte nicht unabhängig voneinander und sakro-
sankt gelten können, sondern nur in ihrer Gesamtheit. Konkret, welchen Sinn hat das „Recht auf
körperliche Unversehrtheit“, wenn alle anderen Freiheitsrechte ausgesetzt oder zumindest erheblich
eingeschränkt sind? Das ist die Situation, wie wir sie zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 längere
Zeit erlebt haben. Ist das „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ wirklich höher einzustufen als das
Recht, sich wirtschaftlich frei zu betätigen, an kulturellen Ereignissen teilzuhaben, sich mit einer
beliebigen Anzahl Menschen zu treffen? Man kann Grundrechte nicht gegeneinander aufwiegen
und aufrechnen, was die Impfpflichtgegner jedoch überwiegend tun, indem sie die anderen Freihei-
ten unberücksichtigt lassen und sich in der Regel nicht dazu äußern, wie denn unter den gegenwärti-
gen Bedingungen der Pandemie die Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens geschützt und
erhalten werden können. Umgekehrt machen es die Impfpflichtbefürworter ihren Kontrahenten aber
auch sehr leicht, wenn sie zur Begründung von gesetzlichen Impfpflichten vor allem den individuel-
len Gesundheitsschutz anführen oder auch vor einer allgemeinen Überlastung der Intensivstationen
in den Krankenhäusern warnen, um auf diese Weise die gesetzliche Pflicht zur Impfung zu legiti-
mieren. Offensichtlich fällt vielen Impfpflicht-Befürwortern gar nicht auf, dass sie in der Tendenz
den Bürger paternalisieren, wenn er mit der Impfung vor sich selbst geschützt werden soll, und auch
instrumentalisieren, wenn er mit einer Impfung zur Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Kapazitä-
ten in den Krankenhäusern beitragen soll.
Viele weitergehenden Freiheitsfragen blieben in dieser Bundestagsdebatte eher außen vor, und da-
mit komme ich zum zweiten aus meiner Sicht problematischen Aspekt in dieser Debatte. Eine ge-
setzliche Impfpflicht, die ja in jedem Fall ein erheblicher Grundrechtseingriff ist, kann eigentlich
nur im Kontext einer Gesamtstrategie zur Pandemiebekämpfung diskutiert werden, nicht losgelöst
davon. Unabhängig, ob man eine solche gesetzliche Pflicht befürwortet oder nicht, ist doch vor al-
lem zu diskutieren, ob sie als Mittel zur Pandemiebekämpfung wirklich effizient und zielführend
ist, ob sie tatsächlich dazu beträgt, die Pandemie wirksam zu bekämpfen. Diese Perspektive vermis-
se ich, sowohl in den Argumenten der Befürworter wie auch der Gegner einer gesetzlichen Impf-
pflicht. Darüber hinaus, jegliche Pandemiebekämpfungsmaßnahmen müssen auch unter ihrer Ver-
hältnismäßigkeit betrachtet werden: welche Freiheitsräume vorübergehend eingeschränkt werden
müssten, weil nur auf diese Weise eine effektive und effiziente Pandemiebekämpfung möglich ist,
welche dagegen wiederum nicht, weil ihre Einschränkung nichts zur Pandemieeindämmung bewir-
ken würde. (Auf Letzteres haben in der Vergangenheit viele FDP-Parlamentarier als Problem ein-
deutig hingewiesen und die parlamentarische Diskussion darüber eingefordert.)
Eine weitergehende Gefahr sehe ich darin, dass unter Berufung auf den Gesundheitsschutz eine
schleichende Einschränkung von Freiheitssphären droht, wenn Politiker die Bürger und Bürgerin-
nen immer mehr zum willfährigen Verhalten und auch zur Solidarität ermahnen. Politik zielt auf die
Aufrechterhaltung und den Schutz von Freiheitsräumen ab, es kann nicht Aufgabe der Politik sein,
die Bürger zum richtigen Verhalten anleiten oder erziehen zu wollen. Die Freiheitserhaltung stellt
sich unter den Bedingungen der Pandemie natürlich als eine besondere Herausforderung dar. Wenn
hierüber Bundestagsabgeordnete in weiteren künftigen Debatten anlässlich der Impfpflichtfrage
vorausschauend debattieren und sachlich ihre Kontroversen darlegen werden, wie Freiheitsschutz
und Pandemiebekämpfung zusammenzubringen sind, würden wir weitere parlamentarische Stern-
stunden erleben.
Prof. Dr. Stefan Kutzner